Krankschreibung digital, telefonisch oder persönlich

Wie viel Arzt-Kontakt muss sein?

Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie sind die Möglichkeiten der Krankschreibung ohne persönliches Erscheinen beim Arzt erheblich erleichtert worden. So sind insbesondere telefonische Krankschreibungen durch den Hausarzt inzwischen gang und gäbe.

Was aber gilt für einen Video-Chat mit einem niedergelassenen Arzt oder für die zunehmend im Internet angebotenen „Online-Krankschreibungen“, bei denen ohne jeglichen ärztlichen Kontakt durch wenige Mausklicks eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung generiert werden kann? In dem folgenden Beitrag werden die einzelnen Möglichkeiten und deren rechtlichen Voraussetzungen unter Berücksichtigung neuer Rechtsprechung erläutert.

Krankschreibung mit Arztkontakt

1. Unmittelbar persönliche ärztliche Untersuchung

Grundsätzlich darf eine Krankschreibung und Ausstellung einer AU-Bescheinigung nur aufgrund einer ärztlichen Untersuchung erfolgen, welche unmittelbar persönlich vom Arzt durchzuführen ist (vgl. § 4 Abs. 5 Arbeitsunfähig- keits-Richtlinie des G-BA).

2. Per Telefon

Seit Beginn der Pandemie im Jahr 2020 hat der Gesetz- geber durch den G-BA die telefonische Krankschreibung ermöglicht. So sieht die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU- Richtlinie) des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA)1 vor, dass ein Versicherter, der an leichten Atemwegs- erkrankungen leidet, telefonisch bis zu sieben Tage krank- geschrieben werden kann und für weitere sieben Kalender- tage eine Folgebescheinigung für den dem Arzt bekannten Patienten möglich ist. Voraussetzung ist, dass sich Ärzte durch eingehende telefonische Befragung persönlich von dem gesundheitlichen Zustand ihres Patienten überzeugt haben. Diese Regelung gilt – pandemiebedingt – zunächst bis zum 31.5.2022.

Gegenwärtig wird in den politischen Gremien und Ärzte- verbänden diskutiert, ob auch nach Ende der Pandemie die Möglichkeit einer telefonischen Krankschreibung aufrecht- erhalten bleiben soll, um Arztpraxen zu entlasten und Infektionsgefahren zu minimieren. Ob die arbeitgeberseitig befürchtete Anonymisierung zu einer missbräuchlichen Anwendung dieser Regelung führen würde, wird abzuwarten sein.

3. Per Video-Chat

Grundsätzlich darf eine Krankschreibung und Ausstellung einer AU-Bescheinigung nur aufgrund einer ärztlichen Untersuchung erfolgen, welche unmittelbar persönlich vom Arzt durchzuführen ist (vgl. § 4 Abs. 5 Arbeitsunfähig- keits-Richtlinie des G-BA).

Neben der telefonischen Krankschreibung ist eine Krank- schreibung per Video-Chat mit einem niedergelassenen Arzt möglich. So regelt die novellierte AU-Richtlinie in § 4 Abs. 5, dass eine Krankschreibung bis zu sieben Tage auch ohne persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt möglich ist, sofern der Patient dem krankschreibenden Arzt persönlich bekannt ist, die Krankheit geeignet ist, um eine Untersuchung mittels Video-Sprechstunde durchführen zu können.

Eine Folgekrankschreibung für weitere sieben Tage ist nur zulässig, wenn eine persönliche Untersuchung erfolgt. Neu ist seit dem 19.01.2022, dass eine Krankschreibung per Video-Chat auch zulässig ist, wenn es sich um einen der Praxis nicht bekannten Patienten handelt.2 In diesem Fall ist die Krankschreibung allerdings auf drei Tage zu befristen.

Krankschreibung ohne Arztkontakt

In den letzten Jahren haben sich im Internet vermehrt Angebote etabliert, mit denen eine Krankschreibung ohne jeglichen Arztkontakt generiert werden kann, und zwar lediglich durch Anklicken einiger ausgewählter Symptome in Verbindung mit verschiedenen Diagnosevorschlägen.

Hierzu hat das Arbeitsgericht Berlin im Sommer 2021 völlig zutreffend festgestellt, dass eine derartige Krankschreibung ohne jeglichen Arztkontakt unzulässig ist.

Hintergrund ist, dass der hohe Beweiswert einer AU- Bescheinigung nach ständiger Rechtsprechung darin begründet liegt, dass in prozessualer Hinsicht der sogenannte „Anscheinsbeweis“ eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers vermuten lässt.

Nach ständiger Rechtsprechung kann der Arbeitgeber jedoch diesen Beweiswert erschüttern, in dem er konkrete Tatsachen vorträgt, die einen ernsthaften Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers begründen, was jedenfalls dann der Fall ist, wenn die Arbeitsunfähigkeit ohne jegliche ärztliche Untersuchung festgestellt worden ist.

In dem der Entscheidung des ArbG Berlin zugrunde liegenden Fall hatte der Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber zwei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt, die er online auf der Seite www.au-schein.de gegen Zahlung einer Gebühr von 14 € selbst ausstellte.

Die AU-Bescheinigungen trugen offiziell den Stempel einer Hamburger Gynäkologin.

Diese Website ermöglicht den Erhalt einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als PDF im Wege der Fernbehandlung. Angepriesen wird das Krankschreibungsangebot, mit dem man „in 3 Schritten zur AU“ gelangt, wörtlich wie folgt:

1 – Fragebogen beantworten

Jederzeit, ohne Registrierung & datengeschützt. Du bestimmst Beginn & Dauer der AU für bis zu 7 Tage.

2 – Arzt erstellt PDF

Mo–Fr von 08.00–09:30 Uhr & 13:00–14:30 Uhr vom Privatarzt in Hamburg ohne Arztgespräch. Bei bestimmten Erkrankungen wählst Du im Fragebogen einen Kassenarzt, der Dich dann zu seinen dort angezeigten Zeiten anruft oder per SMS zum Videochat einlädt.

3 – PDF runterladen

Sofort danach erhältst Du eine E-Mail plus SMS-Code, um alle Versionen Deiner AU als PDF-Dateien runterzuladen. Optional erhältst Du die AUs auch sofort per Post.

Auf der Website kann der User zwischen zwölf verschiedenen Grunderkrankungen auswählen und danach verschiedene vorformulierte Fragen zu Symptomen beantworten. Die Anamnese beruht damit auf den Antworten des Users auf die vorformulierten Fragen. Ein Arztkontakt findet zu keinem Zeitpunkt statt.

Nachdem der Arbeitgeber diese Online-AU-Bescheinigung nicht akzeptierte, verklagte der Arbeitgeber ihn auf Entgeltfortzahlung gemäß § 3 Abs. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG). Das Arbeitsgericht Berlin wies die Klage des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ab.

Danach könne von einer ordnungsgemäß ausgestellten AU-Bescheinigung nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 1976 nicht mehr ausgegangen werden, wenn der Ausstellung keine Untersuchung vorausgegangen sei und mangels Patientenbeziehung auch eine Ferndiagnose ausscheide.

Das ArbG Berlin betont in seiner Entscheidung, dass selbst die Infektionsgefahr im Hinblick auf die aktuelle Corona-Pandemie keine Ausnahme von dem Grundsatz der persönlichen Untersuchung rechtfertige.

Denn selbst die eigens zur Risikoeindämmung der Corona-Pandemie geänderte AU-Richtlinie des G-BA setze stets einen persönlichen Kontakt, zumindest im Rahmen eines Telefonats, zwischen Arzt und Patient voraus.

Im Ergebnis entspricht das Urteil des ArbG Berlin einem neueren Urteil des OLG Hamburg, welches einen wettbewerbsrechtlichen Hintergrund hatte. Danach sei ein Geschäftsmodell, bei dem der Arzt eine AU-Bescheinigung per WhatsApp oder per Post an den User schickt, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt mit dem Patienten in Kontakt gewesen zu sein, unzulässig.

Denn mangels ärztlichen Erstkontakts sei die AU-Bescheinigung in ihrer Beweiskraft erschüttert. Das OLG Hamburg verwies in seiner Entscheidung auf die den Ärztinnen und Ärzten gemäß § 7 Abs. 4 S. 3 Muster-Berufsordnung (MBO-Ä) obliegende Pflicht, im konkreten Einzelfall zu entscheiden, ob eine Fernbehandlung mit dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse vereinbar sei.

Bei dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fall gab der Online-Anbieter folgende Versprechungen ab:

Sie sind arbeitsunfähig wegen Erkältung und müssten daher zum Arzt? Hier erhalten Sie Ihre AU-Bescheinigung einfach online per Handy nach Hause!

Und so geht’s: Symptome schicken, Risiken ausschließen, Daten eingeben, einfach bezahlen, fertig.

Der User hat lediglich verschiedene Fragen zu Symptomen und Risikofaktoren zu beantworten, die zu einer automatisch generierten AU-Bescheinigung führen. Dabei kann der User diesen Vorgang unbegrenzt wiederholen und unterschiedliche Symptome angeben.

Das OLG Hamburg bestätigt vollumfänglich das Urteil des LG Hamburg, wonach ein wettbewerbsrechtlicher Unterlassungsanspruch gegen den Anbieter dieser Online-Krankschreibung bestehe. Es führt aus, dass neben einem Verstoß gegen das berufsrechtliche Fernbehandlungsverbot aus §§ 7, 11, 25 HWG die Werbung des Online-Anbieters vor allem auch gegen § 9 HWG verstoße, da für die Erkennung von Krankheiten, welche nicht auf der unmittelbaren Wahrnehmung des Arztes beruhten, geworben werde.

Folge: Die in Rede stehende Online-Werbung sei unlauter i. S. d. § 3a UWG.7 Die Verklammerung zwischen Unlauterkeitsrecht und ärztlichem Berufsrecht sieht das OLG Hamburg darin, dass die Werbung für eine Fernbehandlung nur zulässig sei, solange die Einhaltung fachlicher anerkannter Standards gesichert sei.

Dies sei aber nur dann der Fall, wenn nach dem anerkannten medizinischen Stand der Erkenntnisse eine ordnungsgemäße Behandlung und Beratung unter Einsatz von Kommunikationsmedien grundsätzlich möglich sei.

Unter Verweis auf den mit § 9 HWG intendierten Schutzbedarf der Patienten, welcher trotz erheblichen Fortschritts der Telemedizin fortbestehe, sei nach dem OLG Hamburg der Maßstab für die „allgemein anerkannten fachlichen Stan- dards“ gemäß § 9 S. 2 HWG die Muster-Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä).

In Anbetracht der Tatsache, dass das streitige Online-Angebot weder einen ärztlichen Kontakt vorsieht, noch die notwendige Einzelfallprüfung gemäß § 7 Abs. 4 MBO-Ä berücksichtigt, kann von „allgemein anerkannten fachlichen Standards“ nicht mehr die Rede sein, denn das berufsrechtliche Fernbehandlungsverbot, welches dem Schutz der Volksgesundheit dient, beruht auf der Annahme, dass partielle Informationen niemals das gesamtheitliche Bild ersetzen können, das sich der Arzt bei einer persönlichen Untersuchung machen kann.

Denn der Arzt nimmt bei einer persönlichen Untersuchung mit allen seinen Sinnen die gesundheitliche Situation des Patienten wahr, wozu neben Mimik, Gestik, Stimme des Patienten häufig auch der Geruch gehören kann und meist auch bestimmte Körperregionen abzutasten sind.

Insofern ist es überzeugend und folgerichtig, dass die Werbung für verkürzte Behandlungsmethoden grundsätzlich unterbunden werden sollen und den online ausgestellten Krankschreibungen der erforderliche Beweiswert für eine Arbeitsunfähigkeit abgesprochen wird.

Es bleibt indes abzuwarten, inwieweit Online-Portale hier nachbessern und ihre Angebote mit ärztlichen Kontakten anreichern, gegebenenfalls in Form von Live-Chats – mit oder ohne Kamera – um den gesetzlichen Erfordernissen unter Berücksichtigung der arbeitsrechtlichen und wettbewerbsrechtlichen Rechtsprechung Genüge zu tun.

Ohne jeden Zweifel wird die voranschreitende Digitalisierung im Gesundheitswesen, beschleunigt durch den Handlungsbedarf der pandemischen oder endemischen Lage, künftig alle Winkel des Arzt-Patienten-Verhältnisses durchleuchten und für ein Umdenken des Gesetzgebers sorgen sowie eine Debatte zur Neuinterpretation „allgemein anerkannter fachlicher Standards“ in Gang setzen.

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Dieser Artikel erschien in der:
Zeitschrift Healthcare & Hospital Law
19. Jahrgang, 2022, Heft 3, S. 15-17
ISSN: 2748-2332